Inferno 1943

Dem Inferno entkommen

Hannover. Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943

Ausschnitte aus einem Bericht der Wochenendbeilage der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) v. 04.
Oktober 2003. Zeitzeugenbericht meines Bruders. Klammervermerke zur Erläuterung hier eingefügt!


Meine Rettung!
Weit über tausend andere hatten in dieser "Bombennacht" nicht das Glück

"Als die Sirenen heulen, wird der achtjährige Lothar (Redlin) von seiner Mutter aus dem Schlaf gerissen, und gemeinsam rennen sie zum Luftschutzbunker unter dem Kaufhaus Magis. Auf dem Weg sehen sie noch die leuchtenden Markierungen am Himmel, die "Tannenbäume", dann stürzen sie in den Keller, dicht an dicht sitzen die Menschen hier bereits beieinander, da fallen die ersten Bomben. Einschlag folgt auf Einschlag. Gewaltige Explosionen erschüttern die Stadt. Decken und Wände zittern, Staub wirbelt auf. Mörtel rieselt von den Wänden. Man hört leises Weinen und Wimmern. Es dauert eine Unendlichkeit. Beißender Rauch dringt in den Bunker. Um 1.45 Uhr lässt der Blockwart die Türen öffnen.

Lothar und seine Mutter sehen alles in glutroten Feuerschein getaucht, das Kaufhaus Sältzer etwa, gleich gegenüber. Phosphor rinnt über den Asphalt, eine brennende Frau läuft schreiend über die Straße. Zusammen mit der Tante (Frieda Klages), der Großmutter (Auguste Lehmann), der Kusine (Bianca) und dem kleinen Bruder (Bodo, 6 1/2 Monate) laufen sie zurück zu ihrem Haus und dem "Weißen Bären" (Gasthaus meines Großvaters Albert Lehmann, Osterstraße 105), sie rufen nach dem Großvater und dem Onkel (Addi Klages), doch sie bekommen keine Antwort. Sie laufen weiter in Richtung Schmiedestraße, an Bränden vorbei, durch Scherben, Trümmer und Phosphor, und als der Besitzer des Pelzgeschäftes am Ende der Osterstraße sagt, hier sei doch alles in Ordnung, sie sollten nur in seinen Keller kommen, da folgten sie ihm. Sie wissen ja nicht, wie schnell das Feuer auch dieses Fachwerkhaus erreichen, niederbrennen und den Ausgang des Kellers versperren wird.

...

Im Keller in der Altstadt, in dem der achtjährige Lothar Redlin mit der Mutter und den anderen sitzt, dringt nun Rauch, es wird heißer und heißer, sie müssen hinaus, das ist ihnen klar. Aber sie können nicht hinaus. Das Feuer lauert vor dem Ausgang. Sie sitzen in der Falle. Hoffnungslosigkeit. Warum es alleine seiner 16-jährigen Kusine überlassen bleibt, hinter dem Fluchtgepäck den Mauerdurchbruch zu suchen, bleibt Lothar Redlin unbegreiflich. Vielleicht lag es auch daran, dass sich einige der Männer längst in den Alkoholrausch geflüchtet hatten.

Die Kusine öffnet den Durchbruch. Nun steigen die Menschen eilig hindurch, über Rohre und Leitungen, weiter in den nächsten und noch weiter in den übernächsten Keller, bis sie schließlich durch eine Drogerie in der Schmiedestraße ins Freie gelangen - wo sie jenes Grauen erwartet, das später als Feuersturm bekannt werden sollte.

...

Die Wetterstation in der Kröpcke-Uhr zeichnet zwischen 2 und 4 Uhr in dieser Nacht einen Anstieg der Temperatur von 10 auf 35 Grad auf. Als der achtjährige Lothar Redlin, seine Mutter und die anderen nach der Odyssee von Keller zu Keller ins Freie treten, schlagen ihnen mächtige heiße Windböen ins Gesicht. Vor ihnen steht eine riesige Feuerwand. Mittendrin das Leibnizhaus und der mittelalterliche Kaufmannsladen von Carl Capelle. Auf der Straße fuchteln Uniformierte die Menschen hektisch Richtung Marktkirche. Lothar Redlins Großmutter jedoch verlässt der Mut, sie will nicht weitergehen. Vor ihnen türmen sich Flammen, fallen Trümmer herab, fliegen Funken. Da erscheint der Bäckermeister Richter, auch er hat schon ein wenig getrunken in dieser Nacht. Aber woher hätte der Mut auch sonst kommen können? Er greift sich Lothar Redlins kleinen Bruder (Bodo), ruft "Los jetzt!" und geleitet sie Richtung Marktkirche, wo es in dieser Nacht fast schon ruhig ist. Bäckermeister Richter geht zurück, er wird in dieser Nacht noch einige aus dem Inferno geleiten, und er wird selbst dabei umkommen."


Zeitungsausschnitt

Ausschnitt Wochenendbeilage der HAZ v. 04.10.2003

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