Abenteuerland Letter-Lakefeld (heute Seelze)

Im April 2013 habe ich anlässlich eines Klassentreffens (55 Jahre Schulentlassung) meine Spielflächen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und insbesondere der 1950er-Jahre in den Leinewiesen am letterschen Lakefeld an einem sonnigen Sonntagmorgen wieder einmal besucht, mit viel Zeit rückblickend „aufgesogen“ und fotografisch festgehalten. Im nostalgischen Rückblick wohl kaum treffender zu bezeichnen: Reise in das Abenteuerland Lakefeld.

Lakefeld 1950er Jahre

1957: In den Leinewiesen/Lake im Bereich der Flutbrücke

Das Lakefeld ist eine innerhalb eines Eisenbahndreiecks liegende Siedlung, umsäumt von drei hoch aufgeschütteten Bahndämmen mit starkem Güter- und Personenverkehr (Fernverkehr, Bedienung von Norddeutschlands größtem Verschiebebahnhof in Seelze). Mit naher Leine, die ständige Überschwemmungen brachte, einem Stichkanal des Mittellandkanals zum Lindener Hafen, der Lake, einem Bach zwischen Stichkanal und Leine, und dazu Teiche und Tümpel (Bombentrichter), Wiesen und Felder war das Lakefeld für Kinder der damaligen Zeit natürlich ein höchst interessantes Terrain. Im Kern des Lakefelds zudem noch ein unbebautes Grundstück zum ständigen „Bolzen“ und ein unverschlossener, größtenteils ungenutzter Luftschutz-Erdbunker. Dazu der Sportplatz von Letter 05 und die Kanal-Badeanstalt gleich nebenan. Nachbars Gärten mit vielseitigem Obstbestand nicht zu vergessen. „Inianer“ und „Kaubois“, was wollt ihr mehr?!

Straßenbahn, Linie 5

Die Üstra-Linie 5, Stöcken - Kirchrode - Stöcken (hier ein fahrbereiter Original-Triebwagen auf dem
Museumsgelände Schönberger Strand/Probstei, 10/2013)

Collage "Generationenfahrt" am 15.08.2018

Und dann gab es in einem Bahndamm integriert einen schmalen Geh- und Radweg vom Lakefeld in die Großstadt Hannover (Stadtteil Leinhausen). Dieser ca. 3 km lange „Schwarze Weg“ (so genannt wegen der schwarzen Schlackendecke), der auch über eine Flutbrücke (Lake) und eine Leinebrücke führte, war schon früh die Verbindung vom beschaulichen Dorf in die große Welt mit Straßenbahnanbindung! Auch wenn es zunächst erst einmal der Spielzeugladen in Leinhausen war, an dessen Schaufenster man sich die Nase plattdrücken konnte ...

Lake

Lake mit alten Kopfweiden

Wahrscheinlich wissen heutige Kinder kaum etwas mit diesen aufgezeigten Gegebenheiten anzufangen, wir jedenfalls waren bis in die Dunkelheit und darüber hinaus aktiv unterwegs. Was machte man eigentlich mit hohen, steilen Bahndämmen? Man baute im dichten Gestrüpp (verbotenerweise) Höhlen oder „Butzen“, rutschte in einem Affenzahn mit aufgepumpten alten Autoschläuchen oder auch Reifendecken die Steilflächen hinunter, um nur zwei Möglichkeiten zu nennen. Das ein oder andere Mal brannten dann auch Bahndämme, sicherlich bedingt durch Funkenflug der Dampflokomotiven. Die Schienen waren natürlich immer tabu. Da hatten wir schon einen Heidenrespekt vor den stark dampfenden Stahlrossen, zumal drei etwas ältere Lakefelder Jungen dort verunglückten. Die drei Brüder suchten auf der Kanalbrücke den Nervenkitzel und legten sich in flache Gleiskästen zwischen den Schienen und ließen sich durch die Züge überrollen. Das ging auch mehrfach gut, ja, bis dann eine Lokomotive mit einem tiefergelegten Räumbügel kam und ihre Schädeldecken trennte ... Zwei Jungen tot, einer überlebte schwerverletzt.

Lok der damaligen Zeit


In der unmittelbaren Nachriegszeit hatte das Wohnen an den Bahndämmen für uns Kinder noch einen weiteren Vorteil. Es rollten unaufhörlich amerikanische Truppentransporte auf den Schienen. Denn im Gegensatz zu den größten Teilen von Niedersachsen waren Letter und Seelze nicht durch Briten, sondern durch US-Amerikaner besetzt, weil im Verschiebebahnhof Seelze die Schienentransporte nach und von Bremerhaven (Schiffsverbindungen in die Vereinigten Staaten und Zugverbindungen nach Süddeutschland) zusammengestellt wurden. Unmittelbar vor den Verzweigungen des Verschiebebahnhofs fuhren die Züge besonders langsam; und die "G.I." ließen sich nicht lumpen und warfen uns, die sich da salutierend oder winkend "aufgebaut" hatten, die begehrten Kaugummis (Chewing Gum) und Schokolade (Hershey’s chocolate) zu.

Nach heutigen Kenntnissen war übrigens das Leben im Lakefeld wohl alles andere als gesundheitsfördernd. Der Rauch der Lokomotiven wurde oft wetterbedingt nach unten gedrückt und verfing sich zwischen Bahndämmen und Häusern. Für uns Kinder war es ein besonderer Spaß, in den Dampfwolken herumzulaufen.

Lake

Die Lake von der Flutbrücke aus gesehen

Aber zurück zum alltäglichen Treiben, z. B. in den „Fisch- und Jagdgründen“. Mit Kescher aus Mutters Nylonstrümpfen sowie Pfeil und Bogen bewaffnet hinein ins Abenteuerland. Die Lake und Teiche sowie Tümpel voll von bunt schillernden Stichlingen, aller Arten von Molchen, Wasserflöhen für unsere Aquarien und anderem Getier. An den freien Flächen der Bahndämme sonnten sich Eidechsen. Schmetterlinge, Mai- oder Junikäfer zuhauf. Die Wiesen voll Champignons, die Knicks mit allen Arten von Vögeln, die man heute kaum noch sieht. Weiß man heute eigentlich noch, dass es z. B. außer Kohl- und Blaumeisen noch einige andere Meisenarten gibt? Letztens sah ich nach vielen Jahren wieder einmal eine Schwanzmeise; die und viele andere gab es in meiner Kindheit zuhauf.

Drachensteigen im Herbst, „Räuber und Gendarm“ oder „Verstecken“ zu jeder Jahreszeit, Schlittschuhlaufen auf den Überschwemmungsflächen, Flöße bauen, Radrennen rund ums Lakefeld, Schwimmen im Kanal, Fußball bis zur Erschöpfung (ich hatte den einzigen Lederball im Lakefeld!) – was für tolle Kindheitserinnerungen. Und eine Schule fürs Leben. Wir Kinder waren in diesem Zeitabschnitt weitgehend „freischaffend“, kaum Aufsicht über unser Tun. Wir hatten aber auch Regeln, die wir allerdings mitunter nur alleine kannten: "Das gildet nicht!" Wir sammelten eigene Erfahrungen, lernten aus brenzlichen Situationen. Natürlich kletterten wir auf die höchsten Bäume, tasteten uns durch eine lange Flutröhre eines Bahndammes, brachen mehrfach auf dem Eis ein oder wagten uns beim Kanalschwimmen viel zu dicht an die Lastkähne – das alles gehörte einfach dazu.

"Unbewaffnet" waren wir kaum anzutreffen, was mitunter nicht gut ankam. Nach den Erfahrungen des Krieges fand pazifistisches Gedankengut schnell Verbreitung; es begann auch in der Kindererziehung ein Umdenken: „Kriegsspielzeug gehört nicht in die Hände von Kindern!“ Auf Spielzeugpanzer und Zinnsoldaten konnten wir gut verzichten. Aber das Ausleben der kindlichen Abenteuerlust in der Natur bekam einen bösen Dämpfer, zumal Wildwest-Filme und entsprechende (verbotene) Groschenromane („Schundliteratur“) Hochkonjunktur hatten. Doch wir waren erfinderisch (siehe Foto ganz oben)! Was dann endlose Diskussionen zur Folge hatte. Sind Pfeil und Bogen „Kriegswaffen“? Wie ist das mit gebastelten, den edlen Rittern nachempfundenen Holzschwertern? Pistolenähnliche Aststücke und gewehrähnliche Stöcker können damit wohl nicht gemeint sein, oder? Da wir in Feld und Flur weitgehend selbständig waren, ging letztlich Vieles. Selbst gefährliche Waffen (Zwillen und größere Steinschleudern) gingen durch unsere Hände, was glücklicherweise ohne Folgen blieb. Und anständige Menschen sind wir in der Mehrzahl auch geworden … Na gut, ich ging später bei der Polizei ein und aus, mein engster Freund war ständig im "Knast"!   :-)

Heimkino1955

Abends gab es dann noch unvergessliche Filmerlebnisse. So um 1955 erhielt ich zu Weihnachten den abgebildeten Filmprojektor PICCOLO der Firma PLANK geeignet für OZAPHAN-Filme (16 mm, Firma KALLE) bis zu einer Länge von 20 m. Lt. Prospekt „ein überraschend preisgünstiges Heimkinomodell (39,-- DM), einfach in der Konstruktion, jedoch vollwertig in der Leistung“. Dazu angeboten wurden unendlich Kinderfilme, wie z. B. Tier-, Sport- und Märchenfilme. Ja, was soll ich sagen, mit solch einem Teil war ich natürlich „King“ in der Siedlung. Nachdem ich mir schon tagsüber diese Stellung „erworben“ hatte, weil ich den einzigen Lederball im Viertel hatte, nun auch noch abends ... „Kinder meiner Zeit“, in der es kaum ein Fernsehgerät in privaten Haushalten gab, wissen, was das für ein „Imagegewinn“ war. Allerdings waren diese Vorführtätigkeiten bei vielen Spielkameraden auch mit einem großen Nachteil verbunden: Ich handelte mir etliche Brandblasen an den Händen ein. Dieses „Kinderspielzeug“ mit einer 220 V-Projektionslampe wurde in kürzester Zeit so heiß, dass man sich selbst am Sockel, den man beim Drehen der Kurbel mit der linken Hand festhalten musste, verbrannte. Undenkbar, dass so etwas heute als Kinderspielzeug in den Handel gelangen würde. Übrigens musste man auch sehr zügig kurbeln, sonst brannten Löcher in den Film ein ...

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Eine sonnige Kindheit hatte ich nun wahrlich nicht, aber diese Erlebnisse im Abenteuerland Lakefeld sind unvergessen und mehr als wertvoll für meinen weiteren Lebensweg gewesen. Gerade deshalb habe ich diese gründliche Exkursion in die Vergangenheit so richtig genossen.


Flutröhre

Flutröhre durch einen Bahndamm im Lakefeld

Der Charakter dieses Geländes ist bis heute weitgehend erhalten geblieben, wie die Bilder zeigen. Die Wege als Teil eines Radwegenetzes durch die Leinewiesen sind zwischenzeitlich verbreitert und auch teilweise gepflastert. Die alten Kopfweiden gibt es immer noch, auch die, in deren halbförmigen Hohlstamm ich von oben hineinrutschte, mich hoffnungslos verkeilte und mich erst nach einer Stunde befreien konnte. Gegenüber, in Richtung Bahndamm, gibt es sogar eine neue mit Buschwerk durchzogene naturbelassene Grünfläche. Einige Vögel singen noch, Fische konnte ich leider in der Lake nicht ausmachen. „Patent-Möllers“ Teiche am Rande des Lakefeldes (jetzt Uferstraße), heute würde man sie als Biotope unter Schutz stellen, mit Conti-Abfällen und Kraftwerk-Verbrennungsrückständen zugeschüttet und bebaut. Kinder konnte ich keine entdecken!

Eisenbahnbrücke über den Stichkanal

Eisenbahnbrücke über den Stichkanal

Dieser Bericht wird wohl kaum noch jemanden interessieren, ich aber möchte für mich dem damaligen Lakefeld mit diesen tollen Kindheitserlebnissen ein sehr persönliches „Denkmal setzen“. Ich ziehe meinen Hut vor allen Erwachsenen, die uns Kinder gestützt haben, die unsere Streiche gelassen aufnahmen; die sehr wohl wussten, dass nicht nur die Stare ihre Kirschen von den Bäumen holten und die Fensterscheiben nicht von selbst zerbarsten. Ich habe insbesondere den Vater einer meiner Freunde mit Hochachtung in Erinnerung, der selbst dann nicht „ausflippte“, als ich seinen VW-Firmentransporter auf dem Hof gegen die Wand setzte.

Willi Fischers Kiosk

Kiosk von Willi Fischer an der Zufahrt zum Lakefeld (Foto: Sammlung Walter Struß). Hinter der Unterführung ging es zum Sportplatz v. Letter 05

Und nicht zu vergessen, meinen väterlichen Freund Willi Fischer, der an der einzigen Zufahrt zum Lakefeld einen Kiosk betrieb, und der es sich nicht nehmen ließ, mit uns Kindern ernsthaft zu diskutieren. Hier ließen wir auch zumeist unsere Groschen, obwohl es im Viertel auch einen Kaufmann gab (Hahnemeier, Ebeling u. zuletzt v. Minden). Er war in den 1920er-Jahren Deutscher Meister im Seitenschwimmen, einer Disziplin, die heute in Vergessenheit geraten ist, und Wasserball-Nationalspieler mit einem riesigen Allgemeinwissen über Gott und die Welt. Aber auch Erwin Neumann, ein älterer Junge, der als Multitalent alles konnte und uns Jüngeren die wichtigen Dinge zeigte bzw. für uns die unbedingt notwendige Ausrüstung bastelte (Holzschwerter, Zwillen pp.) oder sogar kochte. Lecker: selbst gesammelte Champignons auf einem Espitkocher. Wir haben alle überlebt! Oma Neumanns Rumtopf zu anderer Gelegenheit übrigens auch ...

Weg nach Leinhausen

Der "Schwarze Weg"

Noch ein paar Worte zum oben erwähnten „Schwarzen Weg“, genutzt insbesondere um die Jahrzehntwende von den 1950er zu den 60er-Jahren, da aber schon als Jugendlicher (ab 15). Dieser "Bahnweg" nach Leinhausen war insbesondere eine wichtige Verbindung für Werktätige, die im Bundesbahn-Ausbesserungswerk Leinhausen arbeiteten. Ich nutze den Weg werktäglich für meine Fahrradfahrten zur ca. 12 km entfernten Lehrstelle in Langenhagen, ansonsten zu Fuß, um die Straßenbahn in die hannoversche Innenstadt zu erreichen und um zum Sportplatz meines Fußballvereins in Hannover-Herrenhausen zu gelangen. Da natürlich auch oft allein des nachts zurück, eben wenn die Siege lange gefeiert wurden oder man sonst noch unterwegs war. Der Weg war völlig unbeleuchtet, sehr unheimlich auch der Gang über die klappernden Holzbohlen der beiden Brücken. Die hin und wieder vorbeirauschenden Züge hatten überdies etwas Gespenstisches. Kein Haus, keine Menschenseele ansonsten unterwegs. Eine unbeleuchtete Unterführung musste auch noch durchschritten werden. Irgendwie war man schon erleichtert, den Weg unbeschadet hinter sich gebracht zu haben. Aber es war nun einmal die schnellste Verbindung in die Großstadt und zurück. Und es sind in den Jahren keinerlei Vorfälle bekannt geworden, die zu großer Besorgnis Anlass gegeben hätten. „Schön“ dort auch die langen Märsche bei sengender Hitze; ohne Sonnenschutz, stolz und ganz im Stil der neuen Zeit im weißen Nyltesthemd und schicker Nylonjacke, die nun wirklich keinen Luftaustausch zuließen ... Oh, was für ein jugendlicher Wahnsinn!

Die „50er“ sind unvergleichbar! Sie waren hart, sehr hart und gleichwohl schön. Die Empfindungen könnten nicht gegensätzlicher sein. Soll heißen: Die kindliche Abenteuerlust wurde voll befriedigt, behütete Kindheit sieht aber anders aus.


(09./24. Juli/20. Oktober 2013/27.01./26.02./07.03.2020/11.05.2022)

Collage Lakefeld mit Leinewiesen und Wohnhaus In der Masch 7

Lakefeld u. Umgebung. Im Viertel gibt es die Straßen In der Masch, Lakefeldplatz, Lakefeldstraße u. Rischedahle

    Eisenbahndreieck Lakefeld (Google Maps)     In der Masch 7 (Google Maps)    

Und wenn uns das Lakefeld zu eng wurde ... "Schwarzer Weg" heute? (externer Link)

Vier Reaktionen auf diesen Artikel       Wie ich nach Letter kam ...

Ortsgeschichte von Letter   Die 1. Herren von Letter 05 in den "50ern"

150 Jahre Eisenbahn in Seelze (ext. Link, PDF)    Verschiebebahnhof Seelze heute

   ... und heute unmittelbar vor der Einfahrt zum Lakefeld! (ext. Link)  

Das Hannover meiner Kindheit und Jugend (Historisches Museum)

Eine andere Kindheitserinnerung irgendwo in Deutschland (externer Link)

Worte. Meine kleine Entdeckungsreise durch vergangene Zeiten

Familie im Lakefeld, 1989

Viele Jahre vorher (1989) zeigte ich meiner Familie das Lakefeld. Rechts der hochaufgeschüttete Bahndamm vor "unserem" Haus (In der Masch)

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